Täter-Loyalität
wenn die Verletzung zur Bindung wird
Es klingt wie ein Widerspruch:
Warum hält ein Kind zu dem Menschen, der es verletzt?
Warum deckt es Unrecht? Warum entschuldigt es Gewalt? Warum sucht es Nähe – und spürt gleichzeitig Angst?
Die Antwort ist unbequem – aber sie erklärt vieles.
Die Sicht des Kindes – und nur die zählt
Ein Kind stellt keine Diagnose. Es hinterfragt nicht, ob die Reaktion der Eltern gerecht ist. Es prüft nicht, ob es psychisch gesund aufwächst. Ein Kind denkt nicht: „Ich werde hier emotional vernachlässigt.“
Ein Kind liebt.
Punkt!
Und wenn Liebe bedeutet, sich selbst zu verleugnen, dann tut es das. Nicht, weil es schwach ist – sondern weil es überleben will.
Überleben bedeutet: Nähe um jeden Preis
Die Bindung zur primären Bezugsperson – meist der Mutter – ist in den ersten Lebensjahren überlebenswichtig. Nicht symbolisch. Sondern real.
Für ein Kleinkind bedeutet Ablehnung: Lebensgefahr. Deshalb wird es alles tun, um angenommen zu bleiben. Und wenn das bedeutet, dass es Schuld auf sich nimmt – tut es das. Wenn es bedeutet, dass es den Schmerz der Mutter trägt – tut es das. Wenn es bedeutet, sich zu spalten, zu schweigen, zu funktionieren –
es tut es.
Nicht aus Dummheit. Nicht aus Schwäche. Sondern aus Intelligenz des Überlebens.
Warum ist das so?
Weil Kinder emotional offen sind – aber kognitiv noch nicht in der Lage, die Situation zu reflektieren. Ein Fünfjähriger kann nicht sagen:
„Das Verhalten meiner Mutter ist emotional übergriffig, aber ich bleibe in meinem Selbstwert stabil.“
Er sagt:
„Ich war wohl schuld.“
Das nennt man Täter-Loyalität – aber eigentlich ist es Bindungs-Intelligenz unter traumatischen Bedingungen.
Die Loyalität sichert die Zugehörigkeit
Kinder identifizieren sich mit dem Täter - weil es schmerzhafter wäre, zu erkennen, dass der Mensch, den sie lieben, nicht liebevoll ist.
Also verlagert das Kind die Schuld nach innen:
„Ich war zu laut.“
„Ich war zu wild.“
„Ich habe zu viel geweint.“
„Ich bin schwierig.“
So bleibt die Welt sicher – zumindest scheinbar.
Denn die Wahrheit, dass der eigene Schutzraum nicht sicher ist, würde das ganze Weltbild zerstören.
Was später daraus wird
Aus dieser inneren Spaltung wird später oft:
Co-Abhängigkeit
Überanpassung
Schuldgefühle ohne Ursache
Schutz für Menschen, die eigentlich Grenzen überschreiten
Scham, Nähe zuzulassen – oder überhaupt etwas zu fordern
Viele Männer beschützen heute noch emotional die Eltern, die sie innerlich nie wirklich gesehen haben. Und viele leben in Beziehungen, in denen sie
mehr aushalten als fühlen.
Nicht weil sie es nicht besser wissen – sondern weil das Aushalten einst ihr Überleben gesichert hat.
Und jetzt?
Der erste Schritt ist nicht: „Ich muss vergeben.“ Der erste Schritt ist:
„Ich darf überhaupt erkennen, was passiert ist.“
Täter-Loyalität ist keine Entscheidung. Es war ein Reflex. Ein Schutz. Ein Überlebensmuster.
Und es darf heute gehen. Nicht in Wut. Sondern in Würde.
Wenn du dich hier wiedererkennst – nicht in den Fakten, aber im Gefühl – dann bist du nicht allein.
Und vielleicht beginnt genau hier die Auflösung einer Bindung, die du nie hinterfragen durftest.